Sola Scriptura

von Jörn Krebs
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Sola Scriptura („allein die Schrift“) ist ein zentrales Schlagwort des evangelischen Glaubens. Es ist das erste Element der so genannten „Fünf Solas“ der Reformation. Diese Fünferreihe entstand nicht ausgehend von einem bestimmten Ereignis, sondern entwickelte sich über einen längeren Zeitraum hinweg. Sie besteht aus:

  1. sola scriptura („allein die Schrift“)
  2. sola fide („allein durch Glauben“)
  3. sola gratia („allein aus Gnade“)
  4. solus Christus („allein Christus“),
  5. soli Deo gloria („allein Gott die Ehre“)

Wir wollen uns in diesem Artikel mit dem ersten dieser fünf Schlagworte beschäftigen und dabei folgende Fragen beantworten:

  • Was ist der Ursprung des Ausdrucks sola scriptura?
  • Was ist historisch mit dem Ausdruck gemeint?

Der Ursprung des Ausdrucks sola scriptura

Der Ausdruck sola scriptura  geht auf eine Aussage von Martin Luther zurück. Er wandte sich schriftlich rund um den Jahreswechsel 1520/1521 n. Chr. im Rahmen der so genannten „Freiheitserklärung“ an Papst Leo X., um Missstände in der Kirche zu beklagen und Änderungen zu fordern. Sein Schreiben führte letztlich zu einem wichtigen Dammbruch der Reformation. In dem Brief beklagt er die überhöhte Position kirchlicher Macht und Lehrautorität. Seine Kritik richtete sich besonders an kirchliche Würdenträger, vor allem aber an den Papst. Die päpstliche Lehrautorität füllte praktisch die Position höchster Autorität in Fragen christlicher Lehre und christlichen Lebens aus. Luther verkündete und forderte, dass sich diese genauso wie die Schriften kirchlicher Lehrer, Bekenntnisse oder Konzilsbeschlüsse vor der Autorität der Bibel verantworten sollten.[1]

Im Rahmen der „Freiheitserklärung“ forderte Luther die praktische Anerkennung der Heiligen Schrift als ultimativ richtungsweisende Autorität, unter die sich auch die christliche Tradition und die kirchliche Autorität beugen müssten. Er forderte nicht die Abschaffung dieser Instanzen, wie etwa der christlichen Lehrtradition oder kirchlichen Führung als solche, sondern er forderte die Alleinstellung der Schrift als absolute und letzte Autorität bei der Wahrheitsermittlung. Der entscheidende Satz in Luthers Erklärung, aus dem der Ausdruck „allein die Schrift“ abgeleitet wird, lautet: „Ich will nicht, dass ein jeder Lehrer verworfen werde, sondern, dass die Schrift allein herrsche …“[2]

Die historische Bedeutung des Ausdrucks sola scriptura

Das Wort, welches Luther an dieser Stelle für herrschen verwendet, heißt wörtlich auch „König sein“.[3] Luther sagt damit bildlich ausgedrückt folgendes: Die anderen Dinge sollen zwar nicht zwingend verworfen werden, aber auf jeden Fall soll die Schrift herrschen wie ein König!

Wie sollte dies aussehen? Luther äußerte sich dazu direkt im Anschluss, ja sogar im selben Satz. Er wollte, dass die Schrift „aus sich selbst heraus und in ihrem eigenen Geist verstanden werde.“[4] Damit forderte er, dass die Schrift als Ganzes und in dem Geist, in dem sie gegeben wurde, die höchste Instanz bei der Ermittlung von Fragen der Lehre und des christlichen Lebens haben sollte. Luthers Forderung von der Schrift als Königin drückt eine Rangfolge verschiedener Instanzen aus, an deren höchster Stelle die Schrift steht.

Diese Aussage muss sicherlich vor dem historischen Hintergrund des Missbrauchs kirchlicher Macht durch bestimmte Würdenträger und einem falschem Verständnis des Wesens kirchlicher Bekenntnisse bzw. historischer Schriften als nicht fehlbar verstanden werden. Seinen Protest darüber drückte Luther auch in den folgenden Jahren wiederholt aus.[5]

Noch einige Bemerkungen zum lateinischen Ausdruck sola scriptura. Ohne Berücksichtigung seiner Bedeutung im historischen Kontext ist der Ausdruck sola scriptura mehrdeutig. Er kann rein grammatikalisch auf mehrere Weisen wiedergegeben werden. Es ist daher nicht automatisch ersichtlich, um welche Form der Alleinstellung der Schrift es sich hier handeln soll. Um das Schlagwort richtig zu übersetzen, ist es wichtig, es in Verknüpfung mit seiner historischen Begleitbedeutung (des Herrschens) zu sehen und sich nach dem biblischen Selbstzeugnis zur Autorität der Schrift zu fragen.

Bei Luther ist die geforderte Alleinstellung der Schrift eindeutig mit der Begleitbedeutung des Herrschens verknüpft. Herrschen bedeutet auf gewisse Weise an der Spitze einer Hierarchie zu stehen. Damit wird aber auch gesagt, dass es andere Dinge gibt, die unter ihr stehen. Wird dies vernachlässigt, ist der Ausdruck sola scriptura aufgrund seiner grammatikalischen Vieldeutigkeit inhaltlich nicht mehr klar zu bestimmen. Bestimmte Übersetzungsmöglichkeiten beschreiben das biblische Selbstzeugnis zum Wesen und der Funktion der Schrift nicht treffend. Rein grammatikalisch ist es möglich, sola scriptura so zu verstehen, als sei die Schrift allein das Instrument göttlicher Offenbarung.[6] Demnach müsste man die Schrift als die einzige Quelle bzw. das einzige Instrument göttlicher Offenbarung verstehen. Doch so richtig diese Aussage auf den ersten Eindruck erscheint, biblisch ist sie nicht. Die Bibel selber schlägt nicht vor, dass sie die einzige Quelle göttlicher Offenbarung ist (vgl. Röm 1,20; 2,14-16; Joh 1,1-14). Die biblische Wahrheit liegt zwei Schritte weiter, nämlich darin: Die Bibel allein ist die letztlich bestimmende Richtschnur für christliche Lehre und Leben! Darin liegt ein Unterschied.

Man kann darüber nachsinnen, ob das Schlagwort vielleicht etwas zu kurz geraten ist. Anstatt dessen könnte man sagen: „Allein die Schrift herrsche!“ (sola scriptura regnet). Das ist auf jeden Fall die Bedeutung, welche Luther historisch in seinem Schreiben verwendet hat.

Tota Scriptura

Nun war bereits oft von der Herrschaft der Schrift die Rede. Doch wie soll das geschehen? Zwei weitere Schlagwörter der Reformation geben Antwort darauf. Erstens, die Herrschaft erfolgt aus der ganzen Schrift (tota scriptura). Dies ist auch bereits bei Luthers Zitat angeklungen, wenn er sich wünscht, dass die Schrift „aus sich selbst heraus und in ihrem eigenen Geist verstanden werde.“[7]

Ganz praktisch bedeutet das, dass wir uns nicht nur einige Lieblingsverse oder  Lieblingslehraussagen der Bibel herauspicken, sondern dass wir die ganze Schrift und damit den ganzen Ratschluss Gottes zu verstehen suchen und befolgen (vgl. Apg 20,27).

Semper Reformada

Als zweites betonte die Reformation besonders, dass die Herrschaft beständig bzw. immer wieder ausgeübt werden muss. Die Verfasser des reformatorischen Leitverses „ecclesia reformata, semper reformanda, secundum verbum dei“, wussten wohl, dass die Neuausrichtung der Gemeinde in Lehre und Praxis auf die biblischen Normen bis zum zweiten Kommen Jesu eine „Dauerbaustelle“ sein würde. Dieser Leitsatz bedeutet: „erneuerte Gemeinde, aber immer zu erneuernd, gemäß dem Wort Gottes.“[8] Es geht um die Bereinigung theologischer Altlasten, die Bewahrung erkannter Wahrheiten und die Verteidigung gegenüber irreführender Lehre oder Praktiken. Es geht darum, zu bestätigen:  „Ja, die Gemeinde ist bereits in Christus und dem Wort erneuert“, aber sie bedarf auch weiterhin bleibender und weiterer Erneuerung gemäß dem Wort Gottes.“ Hier geht es nicht um das Prinzip der Innovation um seiner selbst willen, sondern um ein stetiges Ringen zum Bestehenbleiben bzw. zur Rückgewinnung eines Glaubenslebens unter der Autorität der Bibel (vgl. Apg 20,26-30; Jud 3).

Das gesamte Bild

Das gesamte Bild, welches das Selbstzeugnis der Bibel zeichnet, kann in diesem Artikel nicht abgebildet werden. Aber der Autoritätsanspruch der Bibel, der im Schlagwort sola scriptura anklingt, fügt sich in einen größeren Gesamtzusammenhang der Bibel ein. Dieses Zusammenspiel zwischen dem Anspruch der Schrift und ihrem Gesamtzusammenhang möchte ich abschließend an dieser Stelle mit einem bildlichen Vergleich beschreiben:

„Die Schrift allein ist die Herrscherin, aber sie hat viele Diener (vgl. Röm 1,20; 2,14-16; 1 Thess 5,19-21; Hebr 13,7). Sie weist auf den höchsten Herrscher hin (vgl. Joh 5,39-40) und rüstet den Menschen zu seinem Dienst aus (vgl. 2 Tim 3,16-17).“


[1] Vgl. Manfred Schulze, ‚Martin Luther‘ in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band 5 (Herzberg: Bautz, 1993) 447–482.

[2] „Nolo omnium doctor iactari, sed solam scripturam regnare,….“ Martin Luther, D Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe (1897) 7. 98-99. [Kursivdruck: Jörn Krebs]

[3] PONS Wörterbuch für Schule und Studium: Latein – Deutsch (2007) 783.

[4] „Sed per se ipsam et suo spiritu intelligi volo.“ Martin Luther, D Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe (1897) 7. 98-99.

[5] Martin Luther, D Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe (1926) 39-1. 184-197.

[6] Für „Lateiner“: In diesem Fall wird einfach der Aspekt des „Herrschens über andere Instanzen“ vernachlässigt und der Ausdruck sola scriptura im Sinne eines Ablativs des Mittels oder Werkzeugs (ablativus instrumenti) verstanden. Die evangelische bzw. reformatorische Tradition hat aber keinen festen Standpunkt dazu, ob der Begriff als Nominativ oder als Ablativ verstanden werden muss. Ferner wird der Begriff als allgemeines Schlagwort verwendet, dessen Bedeutung sich anhand einer theologischen Ausrichtung füllt. So ist es auch für uns, wenn wir die Autorität der Bibel verstehen wollen, am besten, wenn wir in erster Linie das Selbstzeugnis der Bibel über ihre besondere Stellung und Funktion betrachten. Dies ist auch die Absicht des Schlagworts.

[7] „sed per se ipsam et suo spiritu intelligi volo.“ Martin Luther, D Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe (1897) 7. 98-99.

[8] Wörtlich heißt es „immer zu erneuernd“, d.h. „sie muss sich immer erneuern”.

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